Positionsphasenmodell

Artikel von Günter Kuhr im Bogensportmagazin Nr 3 Mai/Juni 2014

Unter dem anspruchsvollen Titel "Bogenschießen mit System" schreibt Günter Kuhr, seinen Angaben nach DOSB Trainer C-Leistungssport eine Serie, wie Bogenschießen zu erlernen ist.

Eine Kritik

Vorab: Zitate des Artikels sind kursiv gedruckt und in Anführungszeichen gesetzt. Ich werde versuchen, die gleichen Definitionen wie Kuhr zu benutzen

Seite 5

Rückblick:

Da tauchen schon schludrige Beschreibungen auf, die nichts Gutes ahnen lassen:

"Beim Transfer führt der Sportler die Oberarmrückseite des Zugarmes parallel zur Schießlinie nach hinten."

Schon das ist falsch. Richtig ist: der Ellenbogen des Zugarmes bewegt sich auf einer Kreisbahn um sein Schultergelenk. Erst in der letzten Phase und auch da nur einen sehr kurzen Weg bewegt sich dieser Punkt parallel zur Schießlinie. Bereits hier deuten sich grundlegende Mißverständnisse von Kuhr hinsichtlich des Spannens an.

"Die Expansion/PP4
Die Expansion ist eine Mikrobewegung, bei der die Pfeilspitze um ein bis zwei Millimeter durch den Klicker bewegt wird"

Was "expandiert" denn da? Da expandiert nichts, die Muskelgruppen kontrahieren, diese Kontraktion bewirkt das Spannen und damit die Vergrößerung des Spannweges. Dieses Spannen wird mit immer kleiner werdender Geschwindigkeit durchgeführt und liegt, kurz bevor der Klicker fällt, bei Spitzenschützen immer noch im Bereich von über einem cm/s.

"Durch die Erhöhung der Rückenspannung wird die muskuläre Spannung des Zugarmes weiter entlastet."

Das ist falsch. Falls im Zugarm irgendwelche muskulären Spannungen da sind, macht der Bogenschütze beim Spannen etwas falsch, und dieser Fehler bleibt bestehen, egal, wie weit der Schütze spannt. Die Rückenspannung muß von Anfang da sein. Er wird sich geringer auswirken, wenn der Schütze aufgrund seiner anatomischen Verhältnisse den Zugoberarm fast in Linie der beiden Schultergelenke bringen kann.

"Während der `Expansion` erfolgt der Zielvorgang und die Augen bleiben auf das Ziel fixiert"

Das ist falsch. Der Zielvorgang beginnt spätestens mit dem Beginn der Spannphase, also von dem Zeitpunkt an gerechnet, ab dem der Schütze das Visier auf das Ziel gerichtet hat und die Sehne zum Anschlag in das Gesicht spannt. Das ist aus den Lehrpostern des DSB recht gut rauszulesen und darauf weisen auch die kurzen Schußzeiten von guten Schützen (zwischen 3 bis 6s vom Voranschlag bis zum Fallen des Klickers ) hin. Allein dieser Satz zeigt, dass sich der Autor nicht den Hauch von Gedanken über den komplexen Vorgang des Zielens gemacht hat.

Seite 6

"Die Linie des Gewehrlaufes wird gehalten."

Das ist so unverständlich, dass damit niemand etwas anfangen kann. Es ist Abschreibe aus dem Buch von Kisik Lee.

"Die erforderlichen ein bis zwei Millimeter....den Klicker zu bewegen, erreicht er, weil sich bei der Expansion der Brustkorb auf beiden Seiten weitet (ver. Haidn 20)"

Das ist nun absoluter Unsinn. Der Brustkorb als Luftballon... Das bedeutet, der Schütze soll in der Klickerphase einatmen, um den Brustkorb zu weiten und damit die letzten Millimeterchen in der Klickerphase zu überwinden. Dieses Verfahren ist untauglich. Es wurde vor Jahrzehnten mal als "Geheimtip" gehandelt. Schnell stellte sich heraus dass dieser Tip unbrauchbar war. Anders bringt man den Brustkorb nicht zum "Erweitern" als durch Einatmen, und wenn man dafür ein neues Wort erfindet "Expansion" bedeutet das nur einen billigen Trick, um sein Nichtverständnis von Mechanik zu kaschieren.

Nachdem der Pfeil durch den Klicker geführt wurde, entspannt der Sportler lediglich noch die Finger der Zughand, sodass die Sehne förmlich `durch die Finger`gleitet.

Der Schütze "macht" also bewußt, garnichts. Sein Unterbewußtsein hat schon lange vorher (wahrscheinlich bis zu zwei Sekunden) bereits den Entschluss gefasst, zu schießen, d.h. in dem Fall die entsprechenden Muskelgruppen zu entspannen.

Diese Annahme beruht auf Theorien in den Neurowissenschaften, die sich mit dem Unbewußten und dem freien Willen beschäftigen. Hiermit kann man auch zwanglos erklären, weshalb ein "bewußter" Schuss, egal ob beim Bogen- Gewehr- oder Pistolenschießen immer ein katastrophaler Fehlschuß wird. Und die Sehne "gleitet" nicht durch die Finger, sondern die Primärdurchbiegung des Pfeiles nimmt die Sehne mit und schleudert die Finger locker zur Seite. Aber das nur als Marginalie.

"Die Rückenspannung zieht die Zughand..."

Die Rückenspannung dreht den Zugoberam um sein Schultergelenk in einer Raumkurve nach rechts unten (bezogen auf Rechtshandschütze und Blick von oben.) Mehr ist nicht. Und sie tut es, weil die Rückenmuskeln noch nicht gemerkt haben, dass das Gegenmoment, aufgebaut durch die Zugkraft des Bogens und dem zu dem Zeitpunkt anatomisch gegebenen Hebelarm nicht mehr existiert. Somit dreht ihr Drehmoment den Oberarm in die angegebene Richtung. Der Zugunterarm mit der Hand wird zusätzlich um das Ellenbogengelenk gedreht und das geschieht durch Muskelspannung im Oberarm die vorher durch nicht perfekte Spannen dort induziert wurden. So einfach ist es, den Ablauf technisch richtig zu schildern.

Seite 7

"Das Nachhalten/ PP4
Das Aufrechterhalten der Körper- ind insbesondere....Beim Nachhalten... Gewehr... erst nach dem Nachhalten."

Die Ausführungen sind nutzlos. Die Form und Art des Nachhaltens richtet sich nach den anatomischen Gegebenheiten des Schützen. Darüber kann man keine allgemeinen Aussagen machen. Wichtiger ist, dem Schützen klarzumachen, weshalb Nachhalten wichtig ist. Der wichtigste Grund liegt in der Konditionierung des Spann- und Zielvorganges im Gehirn und der einzigen Kontrolle, die Der Schütze nach dem exekutierten Schuss selber hat, nachzuprüfen, ob alles einigermaßen geklappt hat.

Seite 8 und 10

Im Wesentlichen sind es Wiederholungen, auf die wichtigsten Punkte bin ich bereits eingegangen.

Fazit

Das Positionsphasenmodell mag in einzelnen Punkten anwendbar sein. In der Form, in der es hier beschrieben wurde ist es unbrauchbar, schildert Abläufe vollständig verkehrt und wird zu falschen Verhalten führen. Es ist nicht möglich und auch unsinnig, eine gleichmäßige Bewegung (das sollte das Spannen des Bogens vom Voranschlag bis zum Brechen des Schusses sein) in Einzelteile aufzulösen. Es gibt dafür keinen Grund. Dieser Artikel ist die ziemlich kritiklose Übernahme von Annahmen aus den Büchern von Weineck/Haidn (die falschen Aussagen dort sind schlimm, weil das Buch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt) und von Kisik Lee, das in Teilen gut ist, wesentliche Dinge auch richtig und anschaulich schildert. Aber diese Teile hat der Autor -aus welchen Gründen auch immer- eben nicht gefunden.
Christian Nentwig